Gehen der Wirtschaft gänzlich die Fachkräfte aus? Allein 20.000 Fachstellen im IT-Bereich sind derzeit unbesetzt.
Wie umgehen mit einer Situation, die Unternehmen in eine wirtschaftliche Bredouille bringen kann? Die langjährige IT-Fachkraft geht, eine neue konnte nach vielen Monaten endlich gefunden werden. Jedoch stellt sich bald heraus, dass sie nicht so fachkundig war, wie gedacht. Also wieder ein Wechsel, die Stelle ist erneut unbesetzt. Aufträge können nicht erfüllt werden. Wie lange wird es dieses Mal dauern, bis eine geeignete Person gefunden ist? So geschehen in einem kleinen mittelständischen Unternehmen der Sensorik-Branche. Kein Einzelfall. Was können die Verantwortlichen in HR tun? Darüber sprechen wir heute mit Hilke Prager, Leiterin des Unternehmensbereichs FEINSICHT der AMC MEDIA NETWORK GmbH & Co.KG aus Darmstadt. Die Personal-Expertin wirbt für einen neuen Blick auf die Situation und den Lifecycle Arbeitsleben. Sie ist überzeugt, „es gibt verborgene Schätze im Arbeitsmarkt“. „Mit innovativen Recruiting-Ansätzen und etwas Mut, können durch das Heben dieser verborgenen Schätze neue Wege zur Lösung des Fachkräftemangels beschritten werden.“ Was sie darunter versteht und welche Schritte Unternehmen konkret umsetzen können, wird sie uns in diesem Interview aufzeigen.
DIGITAL FUTUREmag: GeschäftsführerInnen, Führungskräfte und HR-Bereiche suchen händeringend neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die Auftragslage ist gut, jedoch sind keine geeigneten Fachkräfte zu finden. Was tun, Frau Prager?
Hilke Prager: In der heutigen Zeit sind innovative Ideen gefragt. Vor vielen Jahren sprachen wir von der „Bewerberflut“. Unternehmen konnten sich nicht retten, vor lauter Bewerbungen. Heute befinden sich die Unternehmen im „war for talents“, im Konkurrenzkampf um High Potentials sowie qualifizierte und motivierte Nachwuchskräfte. Die Nachfragesituation hat sich in vielen Bereichen, wie z.B. in der IT, bei Ingenieuren, ErzieherInnen, etc. komplett gedreht. Was schleichend begann, hat mittlerweile eine Dimension angenommen, die für die deutsche Wirtschaft und das Gemeinwesen insgesamt besorgniserregend ist. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass sich die Art, wie Stellen besetzt werden, noch im Modus eines alten Denkens bewegt.
DIGITAL FUTUREmag: Welche Ideen haben Sie, um dem Fachkräftemangel zu begegnen?
Hilke Prager: Arbeitgeber sollten ein „Good Place to Work“ sein, d.h. ein Ort, an dem Menschen gerne arbeiten. Ein „Good Place to Work“ spricht sich herum und hat es damit leichter bei der Akquise neuen Personals. Diese Sogwirkung muss man sich jedoch erarbeiten. Jetzt fragen Sie mich bestimmt: Wie wird man ein solcher Ort? Indem man die Interessen und (privaten) Herausforderungen seiner MitarbeiterInnen ernst nimmt und versucht, eine gute Work-Life-Balance zu fördern. Dies reicht von Angeboten verschiedener Teilzeitmodelle über hybride Arbeitsoptionen bis hin zu Erleichterungen bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, wie z.B. durch einen Betriebskindergarten oder flexible Arbeitszeiten. Bei all dem spielt die Unternehmenskultur sowie die Frage „Wie gehen wir miteinander um?“ eine große Rolle. Damit entwickeln die Unternehmen ihre Arbeitgebermarke, ihr Employer Branding. Dieses gilt es ebenso zu vermarkten, wie die Produkte des Unternehmens. Denn eines muss klar sein: Heute bewerben sich Arbeitgeber bei den potentiellen, neuen MitarbeiterInnen, nicht umgekehrt. Darüber hinaus sollten Unternehmen unbedingt auch nach den „Verborgenen Schätzen des Arbeitsmarktes“ Ausschau halten und offen sein für innovative Recruiting-Modelle.
DIGITAL FUTUREmag: Was verstehen Sie unter den „Verborgenen Schätzen des Arbeitsmarktes“? Und wie sehen Ihre innovativen Recruiting-Ansätze aus?
Hilke Prager: „Verborgene Schätze des Arbeitsmarktes“ sind Menschen, auf die wir aus dem HR bislang keinen ausreichenden Fokus geworfen haben, wie z.B. QuereinsteigerInnen oder ehemalige ManagerInnen bzw. Top-Leader, die ganz bewusst nicht mehr als Führungskräfte arbeiten wollen. Diese BewerberInnen werden zu Gesprächen oft nicht eingeladen, weil sie entweder zu alt, nicht qualifiziert oder überqualifiziert sind. Hier ist es aus Unternehmersicht ratsam, die Parameter der Bewerbungssoftware zu überprüfen und sich ein persönliches Bild der InteressentInnen zu verschaffen. Zu den „Hidden Nuggets“ gehören auch Menschen, die zwar Top-PerformerInnen sind, sich momentan jedoch aus unterschiedlichsten Gründen weit von ihrer Kraft und Stärke entfernt befinden.
DIGITAL FUTUREmag: Können Sie uns diese Gruppe näher erläutern?
Hilke Prager: Ja, gerne. Ich spreche hier von Menschen, die fachlich über hervorragende Kompetenzen verfügen. Sie haben sich mit vollem Engagement sowie Leidenschaft in ihr Unternehmen eingebracht. Plötzlich erfahren sie, dass sie das Unternehmen verlassen müssen. Die Gründe können vielfältig sein: Betriebliche Rationalisierungsmaßnahmen, eine bevorstehende Fusionierung, Outsourcing, Krankheit, Burnout, möglicherweise ausgelöst durch eine Mobbingsituation, etc. Unabhängig von der finanziellen Situation kann dieses Ausgrenzungserleben zu einer starken Kränkung mit weitreichenden, auch gesundheitlichen Folgen führen. Ihr Selbstbewusstsein und Selbstwert befinden sich in einem Tief. Von ihrer ehemaligen Kraft, Stärke oder Elan keine Spur mehr. Sie suchen sich – oft halbherzig – eine neue Arbeit. In Bewerbungsgesprächen können sie nicht überzeugen. Kein Wunder, da sie ja von sich selbst auch nicht überzeugt sind. Und genau hier können Unternehmen neue Wege gehen.
DIGITAL FUTUREmag: Welche Wege können dies sein?
Hilke Prager: Ich werbe HR-Abteilungen, GeschäftsführerInnen oder Führungskräfte dafür, diese Menschen, gleichwohl einzustellen, wenn sie in ihnen Potential vermuten. Wir kennen das doch Alle: Manche Bewerbungsunterlagen lassen ein vielversprechendes Bild der InteressentInnen entstehen, weil die fachlichen Voraussetzungen, Kompetenzen und Beurteilungen hervorragend sind. Im Bewerbungsgespräch dann der eklatante Gap zwischen den Unterlagen und dem persönlichen Eindruck. Normalerweise ist die Absage jetzt nur noch reine Formsache. Was wäre, wenn wir unseren Eindruck transparent machen und versuchen würden, herauszufinden, wie es zu diesem gravierenden Missverhältnis kommt? Möglicherweise erfahren wir, dass die BewerberIn beruflich eine Krisensituation erlebt hat, die noch nicht verarbeitet ist. Genau für diese Zielgruppe haben wir von FEINSICHT ein Online-Mentoring-Begleitprogramm entwickelt.
DIGITAL FUTUREmag: Wie kann Ihr Programm die Unternehmen unterstützen und einen Beitrag zur Lösung des Fachkräftemangels leisten?
Hilke Prager: Mit unserem Online-Mentoring-Begleitprogramm machen wir diese Menschen für die Unternehmen wieder stark. Mit unserer Unterstützung und in einer Community mit Gleichgesinnten arbeiten sie das Erlebte auf, setzen sich mit ihrem Selbstbild auseinander und wachsen so wieder in ihre Kraft und Stärke hinein. Wir bieten den Unternehmen ein 6-monatiges „Training into the full Potential“, das berufsbegleitend erfolgen kann. Hierbei geht es um die mentale Stärkung dieser „Hidden Nuggets“, um den Unternehmen zeitnah wieder voll zur Verfügung stehen zu können. Dabei könnte mit einer geringen wöchentlichen Arbeitszeit begonnen werden, die je nach Belastbarkeit – ähnlich wie bei Wiedereingliederungsmaßnahmen nach einer längeren Erkrankung – sukzessive erhöht wird. Gemeinsam mit der fachlichen und sozialen Einarbeitung durch das Unternehmen und unserem mentalen Potential-Uplift heben die Arbeitgeber einen echten Fachkräfte-Schatz, den sie bislang noch nicht auf dem Schirm hatten.
DIGITAL FUTUREmag: Warum sollten sich Unternehmen auf dieses Modell einlassen?
Hilke Prager: Solange die BewerberInnen-Situation, gerade im IT-Bereich, so ist, wie sie ist, nutzt es nichts, den vergangenen goldenen Zeiten hinterher zu trauern. Neue, innovative Ideen sind gefragt. Es geht den Unternehmen darum, Fachkräfte zu akquirieren, die top Leistungen erbringen und diese langfristig zu binden. Wenn Sie sich die hohen Zahlen der Burnout-Fälle anschauen, werden Sie feststellen, dass diese Zielgruppe ziemlich groß ist. Menschen, die in einer herausfordernden Situation Unterstützung bekommen und an die geglaubt wird, wissen diese Chance zu würdigen. Damit erhalten die Unternehmen, wenn alles gut läuft, hochmotivierte und loyale MitarbeiterInnen, die es dem Unternehmen nicht so schnell vergessen, dass ihnen aus einer tiefen Krise herausgeholfen wurde. Das ist auch für die bestehende Mitarbeiterschaft von Bedeutung. Es schafft Vertrauen, wenn auch in einer Krisensituation die Wertschätzung gegenüber der Person und Leistung erhalten bleibt und hat zudem einen hohen Impact auf die Unternehmenskultur zur Folge.
DIGITAL FUTUREmag: Wann würden Sie Ihr Programm als erfolgreich bezeichnen?
Hilke Prager: Unser Programm ist dann erfolgreich, wenn diese Menschen nach Ablauf von 6 Monaten die Probezeit bestehen und den Unternehmen zukünftig als Top-PerformerInnen zur Verfügung stehen.
DIGITAL FUTUREmag: Zum Ende unseres Interviews noch eine Frage: Was hat Sie bewogen, diese „Hidden Nuggets“ in den Fokus zu nehmen?
Hilke Prager: Dies ist eine persönliche Herzensangelegenheit von mir, da ich selbst in einer solchen Situation war. Ich weiß, wie sich Top-PerformerInnen fühlen, die das erlebt haben. Ich weiß, was ihnen fehlt und was ihnen hilft: Der Glaube an sich selbst. Und Jemanden, der an sie glaubt, sie versteht und Schritt für Schritt dabei begleitet, stärker als zuvor aus der Situation herauszukommen. Wie ein Phoenix aus der Asche. Und ich weiß, dass es funktioniert.
DIGITAL FUTUREmag: Herzlichen Dank für dieses interessante Interview, den persönlichen Einblick und dem Aufzeigen neuer Wege zur Lösung des Fachkräftemangels.