Im Interview mit Marie-Ivonne Otisi-Schaarschmidt, Vorstand bei der RA-MICRO Software AG und Dr. Peter Becker, Gründer und Aufsichtsratsvorsitzender
Die RA-MICRO Software AG mit Sitz in Berlin ist ein innovatives mittelständisches Softwarehaus. In der Software-Entwicklungsabteilung sind mehr als 100 Mitarbeitende beschäftigt. Das Hauptprodukt des Unternehmens ist die in Deutschland seit Jahrzehnten marktführende RA-MICRO Kanzleisoftware. Mit insgesamt etwa 500 MitarbeiterInnen betreut die deutsche RA-MICRO Organisation 70.000 PC-Arbeitsplätze in Anwaltskanzleien.
Durch Corona trat jäh die Notwendigkeit ein, trotz Home Office in einer hochkomplexen kommunikativen Interaktionsstruktur Produktivität, Kreativität, Effizienz und die Firmenkultur zugunsten der Mitarbeitenden und der KundInnen auf höchstem Produktivitätsniveau beizubehalten. Da die Prüfung der am Markt verfügbaren Lösungen keine geeigneten Produkte hervorbrachte, musste kurzfristig eine eigene Lösung für dieses drängende Problem geschaffen werden. Dies führte zur Entwicklung einer gänzlich neuartigen organisatorischen Lösung für modernes Arbeiten, einem virtuellen Büro. Dieses ist videobasiert, greift konzeptionell aber weit über den Gedanken einer Team- oder Videokonferenzlösung hinaus.
Mit Marie-Ivonne Otisi-Schaarschmidt und Dr. Peter Becker sprechen wir heute über moderne Büroarbeit, Personalmotivation und -zufriedenheit sowie technische Bedingungen, um raum- wie zeitflexibel jobrelevante Tätigkeiten ausführen zu können.
DIGITAL FUTUREmag: Corona hat viele Schwachstellen gerade bei Mittelständlern aufgedeckt und dort auch bisher niemals infrage gestellte betriebliche Abläufe auf den Prüfstand gestellt. Wie war Ihr Unternehmen selbst auf das Pandemie- und damit einhergehende Lockdown-Geschehen vorbereitet? Und was hat diese (Krisen-)Situation in Ihren internen Prozessen und Strukturen verändert?
Dr. Peter Becker: Auch wir waren nicht vorbereitet. Verändert hat sich praktisch ALLES und das für immer. Aufgrund unserer sehr hohen Entwicklungsressourcen haben wir gemeinsam mit einer international aufgestellten Partnerfirma auf der Basis von Jitsi Open Source in wenigen Wochen unser Virtual Office-System auf die Beine gestellt und in den nächsten Monaten in der praktischen Nutzung mit rund 500 TeilnehmerInnen verfeinert.
Das vOffice-Konzept stammt von Marie-Ivonne Otisi-Schaarschmidt und mir. Wir wussten von Anfang an glasklar, was wir wollten: Real Office und Home Office auf einer virtuellen Metaebene zu einem produktiven Ganzen verschmelzen, ohne Produktivitäts- und Effektivitätsnachteile gegenüber einem klassischen Büro – ganz im Gegenteil: Die Arbeitswelt sollte zeitgemäß digitalisiert werden. Wir wollten jederzeit wissen, wer gerade jetzt im Real- oder Home Office ist, wer welchen Kommunikationsstatus hat. Jeder sollte jederzeit für die persönliche Kommunikation frei erreichbar sein, vorrangig auch für die Leitenden, so wie eben bei Anwesenheit im Unternehmensbüro vor Ort.
Wir haben bei RA-MICRO eine komplexe Organisationsstruktur mit sehr vielen Elementen und Teams. Die Basis einer virtuellen Firmenstruktur musste ein Organigramm sein, das für alle transparent, permanent aktuell, visuell erfahrbar macht, wer wer ist und wohin er gehört. Auch die Einarbeitung neuer KollegInnen musste ja weitergehen, wie soll man sonst in einer Home Office-Situation neue Mitarbeitende sofort produktiv integrieren?
DIGITAL FUTUREmag: Was ist der Vorteil gegenüber Microsoft Teams oder Zoom, um hier nur zwei bekannte Beispiele zu nennen?
Marie-Ivonne Otisi-Schaarschmidt: Video Meeting-Lösungen sind episodisch; vOffice stellt dagegen eine durchgängige Videopräsenz den ganzen Arbeitstag über her. Teams gibt den Benutzern Räume zur Gruppenbildung, in vOffice gibt das Unternehmen zentral die Unternehmensorganisation und die Gruppenstruktur auf drei Hierarchie-Ebenen vor. vOffice gehört in den Bereich von Unternehmensorganisationslösungen, es kann der Gruppe von Organigramm-Software zugeordnet werden – mit dem Unterschied, dass das Ergebnis keine hübschen Grafiken sind, sondern das Organigramm die lebendige Grundlage aller Arbeitsabläufe ist.
DIGITAL FUTUREmag: Bei RA-MICRO haben Sie darauf geachtet, dass die Motivation und Zufriedenheit der MitarbeiterInnen nicht leidet, sondern eher gefördert wird. Wie machen Sie das?
Dr. Peter Becker: Steve Jobs hat gesagt, jeder möchte Teil einer großen Sache sein. Das Schlimme am andauernden Home Office für die Mitarbeitenden ist das Fehlen des Gemeinschaftserlebnisses, der Plausch, das Erfahren von Wertschätzung und das Erleben von Erfolgen. Vielmehr hat man sehr reduzierte Möglichkeiten sich einzubringen und fühlt sich abgeschnitten.
Unser vOffice wurde auf eine völlig verblüffende, leichte Art als Arbeitsgrundlage positiv aufgenommen. Wir haben täglich 500-1.000 interne Videogespräche. Morgens geht man bei uns ins vOffice zur Arbeit. Egal, wo man sich befindet, ob im Real Office oder im Home Office. Das macht einfach Freude für alle, weil man immer Teil des Ganzen ist. Allgemein ist man bei uns der Meinung, dass man sich im vOffice mehr begegnet, als im Real Office. Produktivität und Arbeitsklima haben sich deutlich positiv entwickelt.
Wir haben schon lange eine 4-Tage-Woche mit 36 Arbeitsstunden als Standard. Nach dem fulminanten Erfolg von vOffice in unserem Unternehmen führen wir jetzt die Hybrid-Arbeitswoche ein: 2 Tage Real Office. Montag und Mittwoch für die eine Hälfte, Dienstag und Donnerstag für die andere Hälfte der Belegschaft. Monatlich werden die Tage gewechselt. Die Vorteile für das Personal sind evident und die Firma spart die Hälfte der Kosten von Präsenzarbeitsplätzen. Alle sind nach Corona dauerhaft glücklicher als vor Corona - dank vOffice.
DIGITAL FUTUREmag: Lassen Sie uns noch einmal auf die Sicherheit Ihrer Technologie eingehen. Gerade im Einsatzbereich der Rechtsanwälte und Notare werden oft hochsensible Daten ausgetauscht. Wie gut ist Ihr System, insbesondere vor Hacker-Angriffen oder Cyber-Attacken, geschützt?
Marie-Ivonne Otisi-Schaarschmidt: vOffice ist eine reine Browser-Lösung. Für alle Browser auf dem sicheren Chromium Standard, die ohne die Angriffsfläche eines lokalen Clients auskommen. Es beruht auf dem verbreiteten Open-Source-Projekt Jitsi. vOffice ist so sicher, dass es nicht nur von vielen Anwälten, sondern bereits in einem Bundesland in der Justiz breit eingesetzt wird.
DIGITAL FUTUREmag: Wagen wir einen Blick in die Glaskugel: Digitalisierung rationalisiert und optimiert. Wo sehen Sie Ihr Unternehmen und insbesondere auch die juristische Arbeit in 10 Jahren?
Dr. Peter Becker: Wir werden in 10 Jahren das fast völlige Verschwinden von Papier in der täglichen Arbeit sehen. Ich schätze, dass dann etwa die Hälfte der Anwaltskanzleien ihre Daten in Rechenzentren halten werden. Komplizierte Computertechnik und Serverräume werden dann weitgehend aus den Kanzleien verschwunden sein. Dort befinden sich zukünftig nur noch Endgeräte, die auf Ressourcen in Rechenzentren zugreifen. RA-MICRO wird diese Entwicklung maßgeblich fördern und beschleunigen mit einer virtualisierten Cloudlösung auf höchstem Sicherheitsniveau – „vCloud“.
DIGITAL FUTUREmag: Ganz herzlichen Dank für Ihre fundierten, nutzerorientierten Einblicke.
Das Interview führte Michael Mattis, Herausgeber des DIGITAL FUTUREmag und Veranstalter des DIGITAL FUTUREcongress.