Wie ist aber vor dem Hintergrund vieler gescheiterter Change-Prozesse eine möglichst fruchtbare Verknüpfung denkbar? Im Interview mit Dr. Klaus Wagenhals und Dr. Frank Kühn von metisleadership.
Digitalisierung, Agilisierung, New Work, Fachkräfte-Mangel und globale Krisen bringen enorme Herausforderungen für die Unternehmen, die oft nicht mehr mit den bekannten Change-Modellen zu bearbeiten sind. Hier braucht es andere Haltungen, ein Umdenken und schnelleres, flexibleres Handeln. Wie das gehen könnte, beleuchtete am 15.03.2024 das metis ChangeCamp im Erfahrungsaustausch zwischen Change-Erfahrenen. Neben bekannten, immer wieder auftauchenden Fragen wurden auch neue Wege diskutiert und so inspirierende Anregungen für die eigene Change-Praxis gegeben. Zu dieser spannenden Veranstaltung hatten zwei renommierte Top-Experten nach Mannheim eingeladen:
Dr. Klaus Wagenhals, Gründer des Netzwerks metisleadership, ist ein erfahrener Industriesoziologe, Arbeitspsychologe und promovierter Ökonom. Seit 1999 widmet er sich leidenschaftlich der Umgestaltung von Organisationen, insbesondere bezüglich agiler Arbeitsweisen und New Work. Dabei hat er die kontinuierliche Verbesserung von Führung und Projektmanagement stets mit im Blick. Er engagiert sich als Speaker, Autor und ehrenamtlich bei der GPM sowie der Initiative zukunftsfähige Führung.
Dr. Frank Kühn, Arbeitsforscher, Gesprächspartner und selbstständiger Berater, bringt über 30 Jahre branchenübergreifende Erfahrung in Organisations- und Change-Projekten mit und war lange Zeit als Führungskraft und Projektmanager in Forschung und Industrie tätig. Diese vielfältigen Kompetenzen fließen in Kooperationen, unter anderem mit metisleadership, ein.
Das Metis ChangeCamp hat Interessenten die Gelegenheit gegeben, von den umfangreichen Erkenntnissen dieser beiden Spezialisten zu profitieren und neue Wege für eine dynamische geschäftliche Zukunft zu erkunden. Heute sprechen wir mit ihnen darüber, wie sich technologische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Umbrüche, mit denen sich Firmen gegenwärtig konfrontiert sehen, bestmöglich meistern lassen.
DIGITAL FUTUREmag: Wie schätzen Sie die aktuellen Challenges in den Bereichen Digitalisierung, Agilisierung und New Work ein, gerade in Bezug auf die Veränderung von Führung und Projektmanagement?
Frank Kühn: Der Begriff Challenge ist sicherlich zutreffend. Ich will drei Beispiele aus unseren Erfahrungen geben. Beginnen wir mit Challenge Nummer Eins: Wir erleben sehr viele Unsicherheiten, Widersprüche und interessengetriebene Verzerrungen im Verständnis der neuen Begriffe. Insofern plädieren wir zu Beginn der Beziehung mit unseren Kunden oft dafür, in den Unternehmen ein gemeinsames Verständnis über die Begriffe zu schaffen: Was verbinden wir mit Digitalisierung und was nicht? Mit Digitalisierung werden oft reine Technikanwendungen assoziiert. Bei Agilisierung geht es um schneller und effizienter. Oft weniger um die damit aber verbundenen Veränderungen auf der Führungs- und Kulturebene. Und New Work wird mit einer „hippen“ Bürolandschaft assoziiert, mit der man junge Leute für das Unternehmen gewinnen will. Dabei geht es um ein viel tieferes Verständnis, was die Menschen in unserer Gesellschaft mit sinnvoller und wirksamer Arbeit verbinden.
Wir würden also davor warnen, einem Hersteller oder Systemanbieter zu folgen, wenn der behauptet, er wisse genau, was was bedeutet – was natürlich seinem Interesse entspricht. Genauso würden wir aber auch Anbieter, Hersteller und die Anwender davor warnen, nur das als „betriebliche Wirklichkeit“ zu akzeptieren, was der Chef ihnen als solche vermittelt. Wir denken, es muss um einen gemeinsamen Klärungsprozess gehen, über die Hierarchie- und Fachgrenzen hinweg mit einer gemeinsamen Orientierung, die nie technologie-getriggert sein sollte, sondern immer vom Mehrwert für den Kunden und Purpose des Unternehmens her gedacht.
Damit wird deutlich, dass unser Ansatz nicht nur für die Führung Konsequenzen hat, sondern auch für das Projektmanagement. Weil es viel mehr um Fragen als um fertige Konzepte geht und viel mehr um die Einbeziehung von allen relevanten Stakeholdern als nur um die „Smart Players“. Das ist insbesondere für viele klassische Organisationen eine enorme Herausforderung und natürlich auch für die Anbieter.
Klaus Wagenhals: In der Challenge Nummer Zwei geht es darum, dass sich die Aufmerksamkeit der Unternehmen und ihrer Lenker verschiebt: Wir erleben, wie man sich in den Digitalisierungs- und jetzt besonders noch weiter in den KI-Diskurs ziehen lässt, statt konsequent dabei zu bleiben, wo denn warum und was verändert werden soll und welchen Support, welche Ergänzung hier die Digitalisierung bieten kann.
In diesem Zusammenhang bleibt oft unklar, was eigentlich Führung heißt. Führung hat gerade in diesen VUCA-Zeiten die Funktion, Orientierung auf das Zukunftsbild des Unternehmens hin zu geben, dazu beizutragen, dass das Zusammenspiel der Mitarbeitenden in diesem Sinne gut funktioniert und sie den Sinn und die Wirksamkeit ihrer Arbeit erleben, mit gemeinsam entwickelten Werten eine gute Zusammenarbeit und die Übernahme von Verantwortung durch die Mitarbeitenden zu unterstützen. Das hat dann natürlich auch Folgen für die Gestaltung der Zusammenarbeit in Digitalisierungs- und Agilisierungs-Projekten und für die Führung dort. Leider wird das mit schöner Regelmäßigkeit erst erkannt, wenn es Reibungspunkte in der Zusammenarbeit gibt. Ein wichtiges Stichwort hier sollte noch das Konzept der „dezentralen Führung“ sein. Das heißt: Führung verteilt auf verschiedene Mitarbeitende und deren Übernahme entsprechend neuer Rollen. Dies ist eines der Erkennungsmerkmale beispielsweise von New Work. Ein anderes ist mehr Selbstorganisation in den Teams oder auch in Kreisen, wie das in bestimmten Organisationsdesigns genannt wird.
Kommen wir zur Challenge Nummer Drei: Wir begreifen die Agilisierung von Projekten und Organisationen als ein viel umfassenderes Change-Konzept, als das oft in der Literatur reflektiert wird: Es geht eben nicht nur um andere Methoden und neue Rollen wie den Scrum-Master, sondern um anderes Denken – „systemisch“, „langsames respektive schnelles Denken“ und so weiter. Um andere Haltungen und Glaubenssätze, zum Beispiel Menschenbild. Um vielerlei Vorschläge zum Neudesign von Organisationen, zum Beispiel weg von der klassischen Hierarchie. Hin zu Kreisen auf „Augenhöhe“. Oder von Micromanagement und Überplanung hin zur Selbstorganisation „vor Ort“.
Wenn wir uns etwa die Rollen-Sets des ScrumMasters, des ProductOwners und des agilen Teams ansehen, dann treffen wir dort auf eine Neudefinition und Neuverteilung von Rollen, mit neuer Verteilung von Verantwortung, was dann im Team im Interesse des gemeinsamen Ziels abgestimmt werden muss. Die Erfahrung ist, dass dies sehr stressfrei geht, einfach auch, weil die neue Klarheit gut tut. So können Entscheidungen wesentlich schneller, als bisher getroffen werden. Natürlich ist die Voraussetzung, dass jeder diejenigen Kompetenzen und Befugnisse sowie den zeitlichen Spielraum besitzt, die er für die Entscheidung braucht und jeder die Verantwortung genau für das übernimmt, worin er kompetent ist. Oft wird so getan, als wäre das selbstverständlich – dem ist aber in unserer Erfahrung nicht so. Man muss in klassischen Organisationen häufig hart daran arbeiten, dass das auch wirklich so funktioniert, weil sowohl Führungspersonen, als auch zu Führende daran gewohnt sind, dass Themen, Wege et cetera vorgegeben werden. Obwohl wir das alles wissen und es dazu längst ausreichend „Beweise“ gibt, machen wir oft einfach weiter wie bisher und wundern uns dann, wenn die Menschen demotiviert werden und ihre Verbindlichkeit und ihre Energie abnimmt.
Also, da können wir noch viel lernen, wenn wir uns der Mühe unterziehen, genauer in die neuen Konzepte einzusteigen und ihre Potenziale zum Umdenken und anders Handeln zu entdecken. Und weil natürlich nicht jeder das „Idealbild“ nachbauen kann und auch nicht sollte, erleben wir in den letzten Jahren viele Mischformen wie unter anderem sogenannte hybride Ansätze.
Frank Kühn: Wir denken, dass die Grundstruktur „Projekt“ schon eine gute Idee ist, die nach wie vor zukunftsfähig ist, weil sie verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen, Kompetenzen und Persönlichkeiten zusammenbringt, um mit gemeinsamer Zielsetzung ein Produkt, eine Entwicklung, eine neue Organisationsidee zu schaffen. Das kann im Interesse der höheren Kundenzufriedenheit, der höheren Arbeitseffektivität und -motivation oder auch der effizienteren Prozesse mit besserer Kooperation sein. Leider sind aber diese Möglichkeiten durch die hierarchischen Strukturen, den alten Mindset über Führung, Organisation und Zusammenspiel von Menschen nicht erst im Lauf der letzten 50 Jahre beschädigt und versperrt worden. Insofern sehen wir in der Agilisierung durchaus einen „Befreiungsakt“, den es nun aber auch gilt zu verteidigen. Zum Beispiel beim Thema Lernen: Alle würden glauben, dass das doch heute selbstverständlich sein müsste und überall dafür Zeit, Raum und Mittel zur Verfügung stehen. Dem ist mitnichten so: Retrospektiven gehören zum Konzept des agilen PM, sind aber bereits nach 10 Jahren schon wieder eingeholt durch das Argument „zu wenig Zeit“, durch zu wenig Bereitschaft über die gemachten Erfahrungen nachzudenken und Erkenntnisse daraus zu ziehen und in die nächsten Projekte oder in den nächsten Change einzubeziehen. Durch den kurzsichtigen Effizienzfetischismus werden die viel höheren Kosten in der Zukunft zu gerne ausgeblendet.
Und jetzt zur Challenge Nummer Vier: Sie ist mit Challenge 2 verbunden. Ob digitale Workflows, Holokratie oder Scrum: Die Gefahr ist, dass Führung an Methoden und Tools delegiert und mechanisiert wird. Wenn wir allerdings die Beschäftigten nach der Freude an ihrer Arbeit und an der Veränderung fragen, so sagen sie uns immer wieder, dass das mit dem Zutrauen der Führung an sie zu tun hat. Mit Räumen des Austauschens und Lernens. Mit Orientierung und Verlässlichkeit im rauen Umfeld. Mit dem Ausprobieren und mit dem Zeigen von Wirkung ihrer Arbeit. Mit der Möglichkeit, ihre Kompetenzen anzuwenden und weiterzuentwickeln.
Insofern raten wir dringend, neues Führungshandeln nicht aus Seminaren oder Rezeptbüchern zu lernen, sondern durch Erproben in der Praxis, durch Feedbacks der eigenen Mitarbeitenden, durch das Beschäftigen mit eigenen Fragen und Verunsicherungen zusammen mit einem Coach oder im Führungsteam. Dazu hilft es, sich mit systemischem Denken, mit der eigenen, individuellen Konstruktion der Wirklichkeit, mit seinem Menschenbild, mit den Interaktionsprozessen im Team und in der Organisation, mit der eigenen Führungserfahrung zu beschäftigen. Diese Mustererkennung ist wesentlich fürs Verstehen und für die Weiterentwicklung sowie für wirkungsvolleres Handeln.
DIGITAL FUTUREmag: Welche Erfahrungen haben Sie in der Anwendung agiler Methoden und Praktiken gemacht, um Organisationen erfolgreich umzugestalten und auf beispielsweise kommende Wettbewerbssituationen im Business vorzubereiten?
Klaus Wagenhals: Wir wenden prinzipiell erstmal keine Lehrbuch-Methoden an, sondern lassen uns von unseren Eindrücken, von den Schilderungen unserer Kunden entlang unserer Fragen leiten. Manchmal beginnen wir auch mit einer kleinen Aufstellung, um das ganze System in den Raum zu holen und so Hinweise zu bekommen, wo die Organisation steht. Manchmal lassen wir die Organisation auch ihren Reifegrad einschätzen, um so gemeinsam Hinweise zu bekommen, wie sie „tickt“, welche Geschichten und Witze erzählt werden, welche Werte und welche Grundsätze gelten, wie der Umgang miteinander beschrieben wird.
Bei meinem letzten Fall begann alles mit der Erzählung, dass der Kunde – ein kleiner Mittelständler – bereits in den Teams eine Diskussion über Werte und deren Bedeutung für die Ziele und den Umgang im Unternehmen angeregt hatte und dass überlegt wurde, jetzt auch die Team-Leiter (das ist die zweite Führungsebene nach Prokuristen und Geschäftsführung) diese Diskussion führen zu lassen. Dazu fiel mir eine Übung ein und daraus folgte der Auftrag für eine kleine Workshop-Serie, die durch ein „worldCafé“ für alle Beschäftigten abgeschlossen wurde.
„Agil“ in diesem Kontext hieß also, mit dem Kunden „mitschwingen“ und erkennen, welche Fragen jetzt wirklich relevant waren und eine passende Vorgehensweise parat zu haben, die einen Mehrwert bieten könnte. „Agil“ heißt insofern für uns auch, den Kunden nicht mit allen verfügbaren Fragen zu seinem Change zu löchern, um daraus ein großes Angebot mit 50 Beratertagen formulieren zu können, sondern mit einem Workshop zu beginnen und zu erleben, wie das erste gute Gefühl in der Zusammenarbeit gestärkt wird und Vertrauen entsteht, um gemeinsam weiterarbeiten zu können. „Agil“ hat im vorliegenden Fall dann für die spätere Roadmap bedeutet, dass wir iterative Schleifen eingebaut haben, um immer weiter auf ein nächstes Entwicklungslevel zu kommen, und dass wir parallel dazu weitere Schritte begonnen haben. Dazu gehörte etwa die Entwicklung von einem neuen Führungsverständnis – passend zum New Work-Verständnis der Firma – und die Klärung der vielfältigen künftigen Rollen sowohl auf Teamleiter-, Prokuristen- und Geschäftsführer-Ebene. Diese Rollenklärung passierte auch für den internen Change und wurde dadurch schnell in die vorhandenen Teams hineingetragen.
Wir halten also nicht so viel davon, sofort an die Neuordnung von Strukturen und Prozessen zu gehen – das ist eher klassisches, betriebswirtschaftlich-getriggertes Beraterdenken. Agil zu werden, beginnt vielmehr beim neuen und anderen Aufsetzen von Projekten, damit verbundenen neuen und anderen Vorgehensweisen und den Rollen. Natürlich reflektieren wir die bestehenden Strukturen und Prozesse und wo diese an ihre Grenzen kommen, heute schon oder in Zukunft. Oft reicht es schon, wenn man in einem Projekt oder in einer Abteilung zusammen vor einem Board steht und sich klar darüber wird, welche Aufgaben anstehen, wer sie bis wann macht und wo es üblicherweise zum Stocken kommt – sogenanntes „Stand-up“. Dabei stellt man dann fest, dass die Beschäftigten oft schon um die Handlungsbedarfe und Aufgaben wissen, dass sich nur keiner getraut hat, diese offen anzusprechen. Man stellt außerdem fest, dass der Teamleiter, der dabei steht, froh ist über die nun entstehende Transparenz. Was er aber in diesem Zusammenhang dann lernen muss, ist, nicht den Schuldigen zu suchen oder per se die eigene Meinung durchzusetzen, sondern an einer gemeinsamen Lösung des Problems zu arbeiten. Oft stellen wir dann fest, dass es für die Mitarbeitenden ein neues Erlebnis ist, entsprechend ihrer Kompetenzen Aufgaben vom Board eigenverantwortlich zu übernehmen, dazu vor allem auch ermutigt zu werden, und zu sagen: „Ich kümmere mich drum – bis Freitag habt Ihr ein Ergebnis“.
Und die Runde merkt, dass es durch die Zusammenschau der Aufgaben einfacher ist als bisher, die Zusammenhänge und die gegenseitigen Abhängigkeiten zu erkennen, systemisches Denken zu üben, Folgen gemeinsam abzuschätzen, in realistischen Zeiträumen zu denken.
Apropos Zeit: Häufig wird ja mit der Aussage „Wir haben keine Zeit” die mangelnde Zeit bemüht, um Aufgaben abzulehnen oder zu verschieben. Das bekommt jetzt durch die öffentliche Schätzung des zeitlichen Aufwands und der gemeinsamen Orientierung eine andere Wendung: „Welche Aufgaben sollten wir wohin legen, damit eine Bearbeitung möglich ist?“ Verantwortung und dadurch Führung übernehmen alle und nicht mehr nur der Projektleiter oder der mittlere Manager, dem noch schnell ein zusätzliches Change-Projekt aufgedrückt worden ist.
DIGITAL FUTUREmag: Wie können Unternehmen einen kollaborativen Veränderungsprozess initiieren und sicherstellen, dass alle beteiligten Stakeholder aktiv eingebunden werden?
Frank Kühn: Die Unternehmen sollten sich nicht auf übliche Change-Konzepte, Rezepte oder schnelle Antworten verlassen, sondern sich selbst fragen: Woher habe ich Signale, dass wir uns anpassen oder sogar radikal verändern sollten? Vertraue ich denen, die die Signale aufgenommen oder weitergeleitet haben – beispielsweise von Kunden? Worum geht es dabei? Warum gerade jetzt? Wohin wollen und sollten wir gehen? Was soll nachher anders sein als jetzt? Und wo fangen wir an? Dafür haben wir ein hilfreiches Frageraster entwickelt. Über unsere Website downloadbar.
Wir haben sehr gute Erfahrungen damit gemacht, gemeinsam mit den jeweils betroffenen Menschen daran zu arbeiten, wohin es gehen soll, wie der Weg dahin aussehen soll, welche Zwischenergebnisse oder Lernschritte benötigt werden, um Erfolg zu haben. Unser Methodenkoffer umfasst sowohl bewährte Modelle und Vorgehensweisen wie BusinessCanvas oder das Rollenmodell von Moreno als auch relativ neue; hier sei exemplarisch Delegationspoker genannt. Gemeinsam zu arbeiten meint nicht nur die Internen und die Externen, sondern auch die Zusammenarbeit über die Unternehmensfunktionen und die vorhandenen Hierarchieebenen hinweg, die wertschätzende Verständigung zwischen den Vorstellungen der Jüngeren und den Erfahrungen der Älteren. Das ist eine Herausforderung, wenn allein darüber berichtet wird, dass 30 Prozent der jungen Leute die Unternehmen innerhalb der ersten Monate enttäuscht wieder verlassen. Über das Zeitalter von Digitalisierung, New Work, KI und Social Media wurde bereits kommentiert, dass es das erste in der Menschheitsgeschichte sei, in dem die Jüngeren nur noch bedingt von den Älteren lernen können. Change und Diversity in Gesellschaft und Unternehmen gehen also Hand in Hand.
Bleiben wir beim Unternehmen. Wir beginnen die Arbeit mit den Menschen dort möglichst schnell. Dabei betrachten wir jede Situation, mit der wir anfangen oder in die wir einbezogen werden, als Spiegel der Organisation, was zu schnellen ersten Erkenntnissen gemeinsam mit den Beteiligten führt. Wir tauschen uns über die Erwartungen an das Neue aus und vereinbaren den weiteren Weg. Es muss ja nicht gleich alles funktionieren, aber die Haltung und das ernsthafte Bemühen muss deutlich werden. Die Mitarbeiter wissen doch, dass die Führungskräfte auch nur Menschen sind, sie nehmen das faire Bemühen wahr, und sie wissen auch, dass die neue Welt nicht an einem Tag realisiert wird. Das lässt sich auch besprechen, da lässt sich gegenseitig auf Augenhöhe Feedback geben: Was sollten wir noch mehr, weniger, anders, genauso weiter machen?
Wenn man so arbeitet, muss man auch viel weniger Angst vor einem „Scheitern – ein Begriff eher aus der „alten Welt“ – haben. Wir sehen das eher als Lernerfahrungen und Kurskorrekturen, die zum Arbeiten ganz allgemein, insbesondere aber auch zum Change dazu gehören und wohlwollend ausgewertet werden. Wir sind überzeugt, dass dies einer der entscheidenden Punkte ist, an dem sich neue, agile Change-Konzepte von klassischen Vorgehensweisen unterscheiden müssen, um künftig erfolgreicher zu sein.
DIGITAL FUTUREmag: Inwieweit spielen individuelle Sichtweisen und Einstellungen des Personals eine Rolle bei der erfolgreichen Implementierung neuer Arbeitsweisen und Organisationsstrukturen?
Klaus Wagenhals: Wie oben bereits erläutert, haben wir ja ein sogenanntes systemisches Bild von Organisationen: Sie sind dynamisch, vielfältig, eng vernetzt, haben einen gewissen Selbstbezug, sind eigentlich gar nicht im herkömmlichen Sinne – zentral oder von außen – zu steuern. Wenn man davon ausgeht, dann steckt in der gestellten Frage ein Missverständnis: Individuen agieren einerseits organisationsadäquat, wenn zum Beispiel in der Organisation Konflikte unter den Teppich gekehrt werden, werden einzelne daran nicht viel ändern – erst dann, wenn sie sich verständigen und etwas gemeinsam dazu unternehmen. Andererseits ist eine Menge persönlichkeits-getriggert. Das Zusammenspiel dieser Interagierenden hält das Organisationsystem am Leben.
Insofern geht es also für die Beantwortung der gestellten Frage um mehrere Aspekte:
- Wie ist das Bild der Organisation, das die Menschen von dieser Organisation haben?
- Welches Verständnis haben sie von Vision, Mission, Strategie, von ihren Aufgaben, ihren Rollen, ihrer Wirkungsmacht?
- Wie ist ihre Vernetzung? Welche Gruppierungen gibt es?
- Wie sehen sie den Change, ihre Rollen und ihre Chancen darin?
- Welche Motivlagen sehen sie bei sich und bei Kollegen, und wie erleben sie folglich ihr eigenes und deren Agieren?
- Welches Verhalten ist also zu beobachten und welche Interpretationen Einzelner lässt es zu, etwa im Verhalten als Change-Promoter oder -Skeptiker?
Insofern wird deutlich, dass individuelle Sichtweisen und Einstellungen der Interaktionspartner natürlich neben der systemischen Funktion der jeweiligen Rollen wichtig sind. Wir glauben aber, dass hier immer noch ein sehr mechanistisches Bild vom sogenannten „Humanfaktor“ vorherrscht: Es werden Individuen nach ihrer individuellen Sichtweise und Einstellung in ein Schema „Gegner“ und „Befürworter“ des Change eingeordnet. In der fälschlichen Annahme, man könnte die Gegner aussortieren oder von wichtigen Entscheidungen fernhalten und sich nur mit den „Befürwortern“ beschäftigen. Das ist in seiner fatalen Wirkung ausreichend nachgewiesen. Vielmehr wird in den systemischen Change-Ansätzen davon ausgegangen, dass die Kritiker oder die Skeptiker wichtige Hinweise auf Probleme, die in der Geschichte bisheriger Change-Prozesse liegen, liefern und für die sich eine nähere Betrachtung oft als sehr lohnend erweist.
Außerdem besteht die Gefahr, wenn man sich zu sehr auf die Persönlichkeiten mit ihren Eigenarten einlässt, dass man schnell in Richtung Psychologisierung von Problemen mit ganz anderen Hintergründen abdriftet oder auch bewusst ablenkt. Man kann leicht ein Strukturproblem auf eine Person, die der Organisation Böses wolle, abwälzen und kommt damit keinen Schritt weiter. Eher landet man in einer Kultur der Schuldzuweisungen, aber zu keiner Befreiung für eine zukunftsorientierte Arbeit. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass man Andersmeinende nicht früher oder später vor die Entscheidung stellen muss, an der Entwicklung zum Beispiel des New Works engagiert mitzuwirken oder die Firma zu verlassen. Das sollte mit klaren Worten und gleichzeitig absolut wertschätzend passieren, denn der Umgang miteinander auch in solchen Situationen wird in der Organisation aufmerksam beobachtet. Toxische Kommunikation und Angst sind mit das Schlimmste, was einer Organisation passieren kann. Insofern braucht es auch den Mut und die Werkzeuge zum konstruktiven Austragen von Konflikten.
DIGITAL FUTUREmag: Wie wichtig sind kontinuierliche Verbesserungen von Führungskompetenzen und Projektmanagementmethoden im Kontext sich wandelnder Arbeitsumgebungen und -anforderungen?
Frank Kühn: Unbedingt. Allerdings müssen wir uns auch hier wieder verständigen, was wir darunter verstehen. Zum Beispiel Durchsetzungskraft als Führungskompetenz? Durchsetzen müssen wir nur Dinge, die anderen als sinnlos erscheinen. Egal worum es geht: um Zielbilder, Prozesse oder Tools. Es geht also vielmehr um glaubwürdige und wertschätzende Kommunikation in sinnvollen Vorhaben. Insbesondere in Change-Projekten können wir das sofort üben. Weil der Change immer sofort beginnt. Ich kann nicht kollegiale Führung versprechen und den Change autoritär beginnen.
Damit wird auch gleich deutlich, dass hier noch andere Kompetenzen gefragt sind als die, welche man vielleicht schon kennt: Es geht viel mehr als bisher um das Aushalten von Widersprüchen, um das Unterstützen und Ermutigen von Menschen, selbstbewusst ihre Rollen wahrzunehmen, ihre Kompetenzen einzubringen, Wege zu kritisieren und neue vorzuschlagen. Hintergrund dafür ist das Gefühl der Psychologischen Sicherheit, der guten Aufgehobenheit im Team. Das schließt an das schon Gesagte bezüglich toxischem Verhalten und Angst an. Es geht ebenfalls um die Fähigkeit, gutes, vorbildliches Feedback zu geben und zu nehmen, Räume für Reflexion und Lernen zu schaffen, Verantwortung zu übernehmen, ins Tun kommen und nicht nur zu appellieren, Ursachen nachzugehen statt nur an Symptomen herumzudoktern, Konflikte nicht in der sprichwörtlichen „Harmoniesauce“ unter den Teppich zu kehren, sondern angstfrei und wertschätzend zu lösen. Erst dann kommen wir zu wirklich neuem Handeln, zu neuen Prozessen, zum Ausprobieren neuer Techniken.
In diesem Kontext geht es, wie Sie gemerkt haben werden, weniger um Projektmanagement-Methoden, sondern eher um Erkenntnisse aus den Sozialwissenschaften, den Neurowissenschaften und so weiter, die wir in unserer Begleitung von Change-Projekten anwenden, die wir in Vorgehensweisen und Übungen einbringen. Wir wollen auch die Leser explizit ermuntern, sich über das klassische und selbst das agile Projektmanagement hinaus um neue Methoden des Lernens, des Übens, des Lernens von neuem und anderem Denken und Verhalten zu kümmern. Ob es dabei um moderne Reflexionsmethoden wie Retrospektiven geht, um Sounding-Boards oder Rollen-Feedback, um Learning Journeys oder Embodied Communication.Vor allem aber geht es um das Beginnen, bei nächster Gelegenheit!
DIGITAL FUTUREmag: Das waren sehr tiefgehende Impulse. Vielen Dank für das angenehme Gespräch.